Das Konzept des Neohumanismus

Durch den Blickwinkel der Spiritualität erfährt der Begriff des Humanismus eine neue, eine erweiterte Definition. Der Gedanke, dass alle Wesen einen Anteil am Kosmischen Bewusstsein in sich tragen, nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere und Pflanzen, vereint alle Wesen zu einer großen Familie. Dieses Bewusstsein nennt Anandamurti den Neo-Humanismus.

Im Humanismus des Mittelalters und seiner darauf folgenden Weiterentwicklung in der Neuzeit entstand das Ideal des geistig entwickelten, gebildeten Menschen. Auf der Grundlage der griechisch-römischen Antike erwuchs ein neues Bildungsideal, das sich bis heute erhalten hat. Unter humanistisch versteht man heute im Allgemeinen ein vernünftiges, mitfühlendes, soziales Handeln auf der Grundlage von Menschlichkeit. Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit sind die wichtigsten humanistischen Prinzipien menschlichen Zusammenlebens.

Der Happy Planet Index
Der Happy Planet Index

Die spirituelle Dimension verleiht dem Begriff Neo-Humanismus eine neue, sehr viel weiter gehende Bedeutung. Der Mensch hat die Aufgabe, sich selbst zu verwirklichen. Der eigentliche Sinn des Menschseins besteht in der Entwicklung des spezifisch menschlichen Potenzials: letztendlich der Verschmelzung des individuellen Bewusstseins mit dem Kosmischen Bewusstsein. Diese Tendenz ist ihm innewohnend, sie wird sichtbar in dem immerwährenden Bedürfnis nach der Erfüllung aller Wünsche. Der Mensch ist niemals dauernd zufrieden. Sein innerer Drang nach mehr ist eine angeborene Tendenz nach der Verwirklichung von allem. Als höchst entwickeltes Wesen hat er eine Verantwortung nicht nur gegenüber den Mitmenschen, sondern auch gegenüber seinen Mitgeschöpfen. Es ist seine Aufgabe, die Wesen dieser Welt zu erhalten und zu pflegen und Schaden von ihnen abzuwehren. Den Mitmenschen sollte ein spiritueller Schüler auf verschiedene Weise dienen und sie in ihrer Entwicklung fördern. Das Glück und Wohlergehen des Einzelnen und der Gesellschaft bilden den höchsten Wert, an dem sich jedes Handeln orientiert. Die Würde des Menschen, sein Leben und seine Persönlichkeit müssen respektiert werden. Die schöpferischen Kräfte des Menschen brauchen Schutz, um sich zu entfalten. Die menschliche Gesellschaft sollte in einer fortscheitenden Höherentwicklung die Würde und Freiheit des Einzelnen gewährleisten.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben sich in der menschlichen Gesellschaft Gruppierungen ausgebildet, die ihr Zugehörigkeitsgefühl nicht auf die ganze menschliche Gesellschaft richten, sondern auf bestimmte Teile. Diese sozialen Gruppen werden durch Gruppengefühle oder Gruppenidentitäten zusammengehalten. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verleiht dem Einzelnen ein Gefühl der Sicherheit. Aber durch egoistische Tendenzen der Gruppe werden andere Gruppierungen als weniger wertvoll, als nicht richtig in ihren Verhaltensweisen oder gar als Feinde betrachtet. Diese Einstellungen blockieren nicht nur die Entwicklung des Einzelnen, sondern auch die Entwicklung der Gruppenmitglieder und schließlich auch die Entwicklung der ganzen menschlichen Gemeinschaft. 

Diese Hindernisse sind nach P.R. Sarkar die so genannten Sentimente, die im Ego und im Eigennutz ihren Ursprung haben. Bei den Sentimenten handelt es sich um gedankliche Konstrukte, die auf Gefühlen wie Neid, etc. und nur scheinbare Logik gehorchen. Solange die eigendienlichen Motive einer Gruppe den Geltungsbereich der humanistischen Werte beschränken, nennt er das Pseudo-Humanismus. Diese Sentimente unterteilt er in das Geo-Sentiment, das Sozio-Sentiment und das Human-Sentiment.

Patriotismus in den USA
„God Bless the USA“ („Gott segne die USA“) – patriotisches Bekenntnis in den Vereinigten Staaten von Amerika

Aus der Liebe zu einer bestimmten Region entspringt das Geo-Sentiment. Die Menschen, die dort leben, handeln aus Liebe zu ihrer Heimat oder ihrem Vaterland und setzen sich für das Wohlergehen ihrer Region ein. Dies ist an sich gut. Wenn dies aber nicht in die Idee der universalen Bruderschaft und Gleichheit aller Menschen auf diesem Globus eingebettet ist, kann die positive Entwicklung der eigenen Region auf Kosten anderer Regionen stattfinden. In ihrer verengten Sichtweise sind Lokalpatrioten eine Gefahr für die friedliche Entwicklung ihrer Nachbarn. Geozentrische Gefühle können im Extremfall zu Kriegen führen, wie dies in mannigfaltiger Weise durch die Geschichte bewiesen wurde.

Bloody Sunday
Wandgemälde nach einem bekannten Foto zum Bloody Sunday 1972 in Bogside (Derry)

Ähnlich schädlich ist das Sozio-Sentiment, in dem sich die Mitglieder einer Gruppe nur mit den Werten identifizieren, die innerhalb ihrer Gruppe als die wesentlichen angesehen werden. Hier sind mannigfaltige Entwicklungen zu beobachten: der Sozio-Patriotismus führt zu Feindschaften, wie sie sich beispielsweise in irisch-britischen Konflikt zeigen, die Sozio-Ökonomie  ist teilweise verantwortlich für Ausbeutung von Bevölkerungsgruppen. Ein Beispiel für ein Sozio-Sentiment stellen die verbreiteten Forderungen an die Länder Afrikas und Asiens dar, bestimmte Strukturen unserer Kultur (z.B. „the american way of life“) zu übernehmen. Auch im Bereich von Kunst, Architektur und Literatur findet sich dieses Phänomen. Gravierende Folgen hat die Ausbildung von religiösen Sozio-Sentimenten. Am schlimmsten leidet die Weltbevölkerung zurzeit unter der sozio-religiösen Geißel des islamischen Terrorismus.

Karl Marx
Karl Marx, Kommunist und atheistischer Humanist
(* 5. Mai 1818 in Trier; † 14. März 1883 in London)

Das Human-Sentiment bezieht die Prinzipien des Humanismus allein auf die menschliche Spezies und lässt alle anderen Wesen der Schöpfung außer Acht. Das führt zur Ausbeutung der Pflanzen- und Tierwelt und der Umwelt. Alle Wesen, alle Moleküle, Atome, Elektronen und Protonen sind nach P.R. Sarkar Ausdrucksformen des allwaltenden Höchsten Bewusstseins. „Diejenigen, die sich dieser Tatsache erinnern und diese Empfindung in ihrem Herzen ständig lebendig halten, sind die wirklichen Verehrer des höchsten Bewusstseins und damit die wahren Humanisten.“

P.R. Sarkar (1921 - 1990)
Prabhat Ranjan Sarkar, Begründer des Neo-Humanismus
(* 21. Mai 1921 in Jamalpur, Bihar, Indien; † 21. Oktober 1990 in Kolkata, Westbengalen)

Diesen Sentimenten kann man durch die Entwicklung einer proto-spirituellen Mentalität entgegenwirken. Dessen Grundlage ist das Prinzip der sozialen Gleichheit. Wenn man dieses Prinzip im tiefsten Herzen verwirklicht hat dann kann kein Feindschaften schaffendes Sentiment entstehen.

Was P.R. Sarkar herausstellt, ist die Notwendigkeit des Engagements jedes Einzelnen wie auch der Gemeinschaften gegen die dem Neohumanismus entgegenstehenden Kräfte und Individuen. Gutes tun wollen, aber seine Stimme nicht gegen Ungerechtigkeit erheben, ist so unsinnig. als wollte man mit angezogener Handbremse eine Autofahrt machen.

Die Quelle der Inspiration für den Neohumanismus ist letztlich die Spiritualität als Kult, d.h. als kultiviertes System der täglichen Übung.

Das Buch, „Neohumanismus“ von P.R. Sarkar, Dharma Verlag, ISBN 3-921769-10-8 mit erläuternden Beispielen und Exkursen zu verwandten Themen, ist in deutscher Übersetzung über unseren Verlag verfügbar.